Ortsgespräch

Erkenne dich selbst

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„Der Mensch hat nie ein Material geschaffen, das so widerstandsfähig ist, wie der menschliche Geist.“ Dieses Zitat des englischen Philosophen Sir Bernard Williams attestiert dem Menschen durchaus eine solide Portion an Resilienz. Warum stehen wir Krisen oder gesellschaftlichen Veränderungen aber oftmals ohnmächtig gegenüber? Wie uns die Philosophie bei der Gestaltung unseres Lebens in solchen Situationen unterstützen kann, darüber haben wir mit dem Philosophieprofessor Harald Schwaetzer gesprochen.
 


Videoaufzeichnung des gesamten Gesprächs ansehen.

Auch die Übermorgenmacher haben Prof. Dr. Harald Schwaetzer Fragen gestellt. Sie finden das Gespräch auf ihrem Instagram-Kanal.
 

 

Sie sagen, dass die Philosophie bei den Herausforderungen von Arbeit und Privatleben eine große Rolle spielen kann. Warum ist das so?
Krisen sind Zeichen von Überforderung. Spätestens seitdem wir glauben, wir seien in der VUCA-Welt, scheint eine Krise Alltag zu sein. Lösungen suchen wir zunächst einmal und berechtigt dadurch, dass wir die Welt ändern oder unsere Prozesse der Weltgestaltung. Dabei übersehen wir aber, dass eine VUCA-Welt auch deswegen eine solche ist, weil wir selbst für uns eine VUCA-Person sind.

Was meinen Sie damit?
Wenn Sie einen Nagel in hartes Holz schlagen wollen, brauchen Sie gutes Werkzeug. Es gibt viele Konzepte, die Ihnen solche Werkzeuge zur Verfügung stellen, und das ist gut so. Aber wenn jemand den Hammer benutzt, der nicht gut nageln kann, dann nützt der Hammer nichts.
Und wenn ich auf Situationen schaue, die mich überfordern, dann gibt es unterschiedliche Gründe für eine Überforderung: Es kann sein, dass mir das Werkzeug fehlt. Es ist aber auch nicht selten der Fall, dass ich nicht die Fähigkeit habe, mit dem Werkzeug umzugehen. Noch schwieriger ist es, wenn wir mir die Fähigkeit fehlt, die konkrete Fähigkeit zu bestimmen und zu erlernen, die ich brauche. Diese Fähigkeit, sich selbst so zu entwickeln, dass man in der Lage ist, neue Werkzeuge zu entwickeln oder zu benutzen, ist das Kerngeschäft der Philosophie: Selbsterkenntnis als Selbstentwicklung, damit ich mir selbst gegenüber souverän sein kann.

Wie kann eine solche Selbstentwicklung konkret aussehen?
Nun, die erste Frage wird dahin gehen, überhaupt erst einmal das Problem auszumachen. Will man es auf einen kurzen Nenner bringen, hält man meistens die anderen oder irgendeine Sache für das Problem. Ich bin nicht das Problem, sondern habe es. Und da liegt möglicherweise der blinde Fleck. Ich sollte prüfen, ob sich die Welt ändern muss oder ich. Es gibt immer diese zwei Seiten der Medaille in diesem Spiel. Und ob Kopf oder Zahl gilt, muss sich je und je erweisen – manchmal braucht es ja auch Änderungen auf beiden Seiten. Deswegen sagt die Philosophie erst einmal: Schau doch, ob du  ein Problem hast oder das Problem bist. Und vorsichtshalber nimm erst einmal an, dass du das Problem bist. Denn selbst wenn du es nicht bist: Wenn du dich änderst, wird auch das Problem sich ändern; und damit gibt es in jedem Fall eine Möglichkeit, einer Lösung näherzukommen.

Wie macht man es, sich zu ändern?
Eine wichtige Unterscheidung ist die von Seele und Ich. Ein Ich ist nicht seine Seele. Menschsein besteht nicht darin, sich seelisch-charakterlich bestimmen zu lassen. Im strengen Sinne gehören nicht nur Triebe, Leidenschaften, Wünsche, sondern auch Vorstellungen, Meinungen und Bewusstseinsinhalte zur Seele, nicht zum Ich. Philosophisch gesehen, so scheint mir, liegt hier eine zentrale Ursache gegenwärtiger Probleme: Menschliches Handeln ist nicht vom Ich her bestimmt und verant-wortet, sondern von Seele und Charakter getrieben, die ihrerseits auch auf äußere Eindrücke reagieren.

Wie finde oder erlebe ich mich als dieses Ich?
Es ist eine einfache Alltagsübung: in einer Situation für einen Moment bewusst innezuhalten, den Automatismus zu unterbrechen und sich zu fragen, wer hier eigentlich die Handlungsimpulse, die Entscheidungskriterien vorgibt. Und dann kann man sich fragen, wer eigentlich  in dem Moment des Unterbrechens „aufgewacht“ ist. Und noch mehr: Wer ist eigentlich derjenige, der die Unterbrechung des gewöhnlichen Bewusstseinsstroms bewirkt hat? Das Hinschauen darauf, wie ein solches aufwachendes Unterbrechen geschieht und von wem, ist eine wichtige Erfahrung. Die Seele selbst fließt einfach weiter; sie wacht nicht auf. Aufwachen geschieht durch einen Anstoß von außen. Aber es kann auch von innen geschehen, ohne äußeren Anlass. Was von innen die Seele unterbricht, aus völliger Freiheit, das ist das Ich. Und dieses Wachwerden schließt zugleich ein, dass ich nicht nur mich erlebe, sondern auch mit neuem und wachem Blick auf die Welt schaue. Von hier aus kann Wahrnehmung von Ich und Welt, Neuorientierung und innovative Entscheidung stattfinden. 
 

Herr Schwaetzer wir danken Ihnen für das Gespräch. Die Fragen stellte Antal Adam.