Förderung reflexiver Kompetenzen bei angehenden Ärzten

Erhalt der Empathie im Medizinstudium und danach

Bei der Ausbildung von Medizinstudentinnen und -studenten liegt der Schwerpunkt üblicherweise auf der wissenschaftlichen und fachlichen Expertise. Fähigkeiten wie moralisches Urteilsvermögen, Einfühlungsvermögen sowie Patientenzentrierung nehmen im nationalen und internationalen Kontext im Verlauf des Studiums ab. Aufgrund von Zeitknappheit, hohen Erwartungen und Anforderungen, negativen Rollenvorbildern und der Ökonomisierung der Medizin rücken die anfangs sehr verbreiteten humanistischen Ideale der Studierenden zunehmend in den Hintergrund. Um sich aktiv und bewusst den im Klinikalltag auftretenden Spannungen zwischen inneren Vorstellungen und äußerer Wirklichkeit gegenüberstellen zu können, wurde 2007 daher das klinische Reflexionstraining an der Universität Witten/Herdecke entwickelt. Ziel dieser Ausbildungsintervention ist die Förderung kommunikativer und reflexiver Kompetenzen bei werdenden Ärzten sowie eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung, um eine individuelle, humane und heilsame Begegnung mit Patienten und Mitarbeitern zu ermöglichen.

Das Integrierte Begleitstudium Anthroposophische Medizin (IBAM) der Universität Witten/Herdecke arbeitete für das Praktische Jahr am Ende des Medizinstudiums Ausbildungsstationen aus, an denen die Studierenden unter enger Anleitung eigenständig die Versorgung von Patienten übernehmen. Dadurch können sie ärztliche Fähigkeiten erlernen und trainieren, ohne dabei äußerem Druck und der Versorgung einer kompletten Station ausgesetzt zu sein. An anderen Universitäten beinhaltet dieser Ausbildungsabschnitt vorwiegend das Lernen durch Zuschauen und die Übernahme kleinerer Aufgaben. Mit dem Einstieg in die berufliche Wirklichkeit zeigt sich anschließend häufig eine Überforderung der jungen Ärzte sowie fehlende soziale Kompetenzen.

Das Reflexionstraining, das im Rahmen der Ausbildungsstationen des IBAM alle zwei Wochen stattfindet, bietet den Studierenden in vorstrukturierten Lern- und Übungsschritten die Möglichkeit der Wahrnehmungsschulung, der Perspektivenübernahme sowie ein Training zur Bewältigung von Unsicherheit und zum Umgang mit Undeutlichkeiten. In Gesprächen reflektieren die Studierenden gemeinsam mit einer Ärztin für Psychosomatische Medizin Probleme des Arbeitsalltags, wie moralische Konflikte, den Umgang mit „schwierigen“ Patienten oder Kollegen, eigene Defizite sowie das Spannungsverhältnis zwischen den Idealen und der Realität. Die Studierenden lernen und üben anhand eines vorgegebenen Ablauf-Schemas Situationen zu erfassen, in denen eine vertiefte Reflexion nötig ist, um angemessene und zufriedenstellende Lösungen zu entwickeln. Durch den Reflexionsprozess entwickeln sie dabei neue Kompetenzen, die ihnen eine optimale Patientenversorgung sowie eine verbesserte Team-Entwicklung ermöglichen.

In der internationalen Literatur wird die Wichtigkeit von Reflexion in der Ausbildung als hoch eingeschätzt. In Deutschland gibt es bisher kaum Ansätze zur Schulung reflexiver Fähigkeiten in der medizinischen Ausbildung. Erstmals würde damit ein Thema wissenschaftlich untersucht, das einerseits als zentral für die ärztliche Tätigkeit angesehen wird, aber in der Ausbildung wie auch in der Evaluation des Medizinstudiums bisher kaum Beachtung findet. Die Diskussion um ein gutes Medizinstudium würde damit um eine wichtige Dimension erweitert.

PROJEKTDETAILS

Das Integrierte Begleitstudium Anthroposophische Medizin (IBAM)

Das Integrierte Begleitstudium Anthroposophische Medizin (IBAM) der Universität Witten/Herdecke integriert anthroposophische Angebote in das Medizinstudium und bildet seit 2004 erfolgreich zahlreiche Ärzte aus. Neben den speziellen Ausbildungszielen für die anthroposophische Medizin hat sich das IBAM unter anderem zum Ziel gesetzt, Reflexionsfähigkeit, Empathie und die Befähigung der Studierenden zur selbstständigen Weiterentwicklung der ärztlichen Persönlichkeit zu stärken. Diese Fähigkeiten stellen die Grundlage einer jeden ärztlichen Urteilsfähigkeit dar.

In einem sechsjährigen Studium der Anthroposophischen Medizin erwerben die angehenden Ärzte einen erweiterten medizinischen Blick auf den Menschen in Gesundheit, Krankheit und Heilung. So schafft das IBAM Voraussetzungen für die praktische Realisierung einer zunehmend national und international geforderten Integrativen Medizin. Das IBAM leistet damit einen essenziellen Beitrag zum Perspektivenpluralismus und reflektierten Methodenbewusstsein in der medizinischen Ausbildung und schafft dadurch wichtige Voraussetzungen zur integrativen Patientenversorgung.

Der Aufbau des IBAM orientiert sich am Curriculum des regulären Medizinstudiums. Die Themen und Inhalte des Modellstudiengangs werden durch die Perspektive der Anthroposophischen Medizin erweitert. Didaktisch setzt das IBAM auf eine studierenden- und patientenzentrierte Ausbildung, deren Mittelpunkt die Förderung der Eigenaktivität und Verantwortlichkeit der Studierenden darstellt. Ausbildungsziel ist die Befähigung zum Anthroposophischen Arzt. Dies beinhaltet die Verwirklichung einer Medizin, die Leib, Seele und Geist erkennt und in ihrer Therapie berücksichtigt. Den Patienten soll in einer dialogischen Beziehungsgestaltung Autonomie und die Übernahme von Verantwortung für die eigene Gesundheit ermöglicht werden. Dazu soll die Reflexion des eigenen ärztlichen Handelns sowie die gezielte Verwendung anthroposophischer Therapien in der Patientenbetreuung erlernt werden, wie z.B. auf den Naturreichen basierende Heilmittel, äußere Anwendungen, künstlerische Therapien, Heileurythmie, biografisch orientierte Gesprächsberatung und Anregungen zur inneren Entwicklung der Patienten.

Phasen und umgesetzte Ziele des Projektes

Seit 2007 wird das Projekt zunächst praktisch erprobt und seit 2011/2012 evaluiert. Die Evaluations-Studie wurde bereits auf mehreren internationalen Kongressen vorgestellt und veröffentlicht. Das Reflexionstraining konnte auf neu entstandene Ausbildungsstationen in anderen Fachbereichen und auf frühere Ausbildungs-Phasen im Studium übertragen werden. Hinzugekommen ist außerdem ein studienbegleitendes Mentoringprojekt, bei dem bereits im vorklinischen Studienabschnitt kommunikative und reflexive Fähigkeit geübt werden sollen – und zwar an der erlebten Realität und nicht simuliert. Die Analyse von Kurzfragebögen zu Erwartungen und Befürchtungen bezüglich des Mentorings ergaben, dass die Studierenden, Mentoren und Co-Mentoren das Angebot als eine Bereicherung ansehen. Um die qualitativen Evaluations-Ergebnisse zu unterstützen, wird derzeit eine quantitative Pilotstudie durchgeführt, die Vergleiche von Fähigkeiten vor und nach einem Praktischen Jahr mit und ohne Reflexionstraining vergleichen soll. Zudem wurde ein Manual mit einer ausführlichen Beschreibung des Aufbaus und der Durchführung des Trainings erstellt, das zur Weiterverbreitung des Konzeptes dienen soll. 2014 fand ein erster Workshop für Hochschullehrerinnen und -lehrer anderer Universitäten auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Ausbildung in Hamburg statt.

Wofür werden die Gelder der MAHLE-STIFTUNG konkret eingesetzt? Was wurde bereits damit erreicht?

Die Gelder der MAHLE-STIFTUNG wurden zur Mitfinanzierung eines Stellenanteils einer Fachärztin eingesetzt, die das Reflexionstraining durchführt, das Projekt weiterentwickelt, betreut und forscht. Durch die Finanzierung kann das Projekt seit 2012 qualitativ evaluiert und weiterentwickelt sowie auf nationalen und internationalen Ausbildungskongressen vorgestellt werden. Eine quantitative Folgestudie befindet sich in der Phase der Datensammlung. Die bisherigen Ergebnisse und die Präsentationen auf nationalen und internationalen wissenschaftlichen Kongressen haben zu einer zunehmenden Wahrnehmung des Projektes geführt. Durch die Ausarbeitung eines Workshop-Formates und die gelungene erste Durchführung auf dem Kongress für medizinische Ausbildung 2014 in Hamburg konnte das Interesse für das Projekt an anderen Standorten in Deutschland und Österreich geweckt werden. Erste Anfragen zur Unterstützung beim Aufbau vergleichbarer Reflexionsangebote liegen bereits vor.

Förderzeitraum und Ausblick

Die MAHLE-STIFTUNG fördert das Projekt seit 2012. Nach dem guten Erfolg des ersten Workshops 2014 auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Ausbildung sollen weitere Workshops an verschiedenen Orten durchgeführt werden, um Interesse für dieses Ausbildungsformat zu wecken. Der nächste Folgeschritt wäre ein Teachers-Training, in dem Hochschullehrer die kompetente Anwendung der Reflexionstrainings in einem modular aufgebauten Format für die eigene Anwendung erlernen können.

Die zukünftigen Entwicklungen sollen weiterhin evaluiert und die Folgen der Anwendung erfasst werden. Dies soll zunächst durch die bereits angelegte quantitative Studie erfolgen. In Planung ist außerdem eine qualitative Befragung der späteren Arbeitgeber der Projekt-Teilnehmer. Eine bereits begonnene qualitative Studie beleuchtet die Frage, inwieweit ein solches Training helfen könnte, die kreative Lösungskompetenz von Studierenden in schwierigen professionellen Situationen zu erhöhen. Gleichzeitig sollen andere klinische Standorte der Universität Witten/Herdecke, aber auch andere nationale Standorte gewonnen werden, die Angebote zur Unterstützung der beruflichen Persönlichkeitsentwicklung durchführen wollen.