Brauchen wir einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitsversorgung?
Zwischen 2000 und 2020 haben sich laut dem Statistischen Bundesamt die Gesundheitsausgaben in Deutschland von 214 Milliarden Euro auf 440 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Die Reaktion auf die Kostenexplosion ist seit Jahren der Versuch, diese planwirtschaftlich zu deckeln und Anbietende von Gesundheitsleistungen in die Pflicht zu nehmen. Darunter leiden sowohl das Gesundheitspersonal als auch die Patientinnen und Patienten. Der gemeinnützige Verein New Work Medizin e.V. ist aus einem Projekt der Gesellschaft Anthroposophischer Ärztinnen und Ärzte in Deutschland (GAÄD) hervorgegangen und möchte mögliche Wege aus der Krise aufzeigen.
„Aus meiner Sicht steht im Gesundheitswesen aktuell nicht mehr der Mensch im Vordergrund. Es dreht sich zu viel um Bürokratie, zu wenig um Medizin.“
Dr. med. Dominik Pförringer
Ärzte und Pflegekräfte sind dadurch gezwungen, zu viel Zeit an Tastasturen, zu wenig Zeit mit dem Menschen zu verbringen“, das sagte im Februar 2023 Dr. med. Dominik Pförringer, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie aus München, dem Magazin „Focus“. Und tatsächlich, der Mensch ist der Leidtragende der Defizite: Eine Studie von PricewaterhouseCoopers Deutschland aus dem Jahr 2023 zeigt, dass die Zustimmung der Bevölkerung zum deutschen Gesundheitswesen in den vergangenen zwei Jahren stark gesunken ist. Während der Pandemie habe das Gesundheitswesen die Chance zur Transformation und zum Ausbau der digitalen Infrastruktur gehabt, doch diese Gelegenheit sei nicht genutzt worden, so die Erkenntnis. Die Zufriedenheit mit der Versorgung in den Krankenhäusern ist (laut Statistischem Bundesamt) im Vergleich zum Vorjahr um zwölf Prozentpunkte auf 51 % gesunken, während sie im ersten Pandemiejahr Ähnlich düster ist die Stimmung beim Gesundheitspersonal: Eine Studie des Bundesministeriums für Gesundheit hebt hervor, dass Pflegekräfte und Auszubildende in der Pflege nicht nur eine angemessene Bezahlung und mehr Personal wünschen, sondern auch mehr Unterstützung bei der Kinderbetreuung, verlässliche Dienstpläne sowie digitale Entlastung.
Auch bei den so genannten „weichen Faktoren“, wie Teamstimmung, Wertschätzung und Führungsstil besteht nach den Erkenntnissen der Studie ein deutlicher Nachholbedarf.
PROJEKTDETAILS
Eine Reform muss her
All diese Daten verdeutlichen, dass im Gesundheitswesen sowohl ein struktureller als auch kultureller Wandel erforderlich ist, um die Zufriedenheit von Personal und Patientinnen und Patienten zu steigern sowie die Qualität der Versorgung zu sichern.
Die GAÄD hat deshalb 2020 eine Projektgruppe mit dem Arbeitstitel „Soziale Zukunft Gesundheit“ aus der Taufe gehoben, die sich seit diesem Jahr als „New Work Medizin e.V.“, kurz NWM, eigenständig gemacht hat. Der Verein zielt darauf ab, menschenzentrierte Medizin sowohl in klinischen als auch in ambulanten Einrichtungen zu fördern und neu zu gestalten.
Die Vision und der Weg dorthin
Das Herzstück von NWM bildet die Idee, gesunde soziale Strukturen der Zusammenarbeit unter den Mitarbeitenden zu schaffen und Arbeitsbedingungen zu entwickeln, die weniger auf Profitmaximierung und mehr auf Sinnstiftung, Nachhaltigkeit und Lebensdienlichkeit abzielen. Karin Gödicke, die Projektleiterin und mittlerweile eine der beiden Personen im Vorstand, betont: „Unsere Vision sind Organisationsformen, die unseren Werten und unserem Menschenbild entsprechen und die Gesundheit sowohl der Patienten als auch der Mit[1]arbeitenden ins Zentrum stellen.“
Viel wurde schon erreicht
Seit dem Beginn hat das Projekt bereits einige Fortschritte erzielt. Zu den Meilensteinen gehören mehrere Online- und Präsenz-Kongresse mit Hunderten von Teilnehmenden zu Themen wie „Was können wir von bestehenden New-Work-Unternehmen aus der Wirtschaft für die Medizin lernen“. Außerdem fanden Workshops statt, die zur Wissensvermittlung und Weiterentwicklung eines Bildungsangebots beigetragen haben.
Das „Integrative Haus der Gesundheit“ in Heidenheim zum Beispiel arbeitet eng mit der NWM-Projektgruppe zusammen. Diese Zusammenarbeit ermöglicht gemeinsames Lernen und Erproben neuer Ansätze. Im November 2022 fand dort ein Netzwerktreffen von Gesundheitsinitiativen statt, das vom NWM-Team begleitet und unterstützt wurde. Diese Kooperation trägt zur weiteren Entwicklung und Umsetzung von New-Work-Transformationsschritten am Haus der Gesundheit bei. An der „Klinik Arlesheim“, einem anthroposophischen Akutkrankenhaus in der Schweiz, hat der Ärztliche Leiter der Inneren Medizin, Philipp Busche (ein Mitglied der NWM-Projektgruppe), die Oberärztinnen und -ärzte sowie das Führungsteam in selbstorganisierter Zusammenarbeit geschult. Die Klinik hat innovative Arbeitsmodelle eingeführt, darunter mobiles Arbeiten und das Projekt Work Smart, welches auf die Reduktion der Wochenarbeitszeit abzielt. Diese Initiativen führten zu strukturellen Veränderungen, effizienterer Zusammenarbeit und einer besseren Balance zwischen Berufs- und Privatleben der Mitarbeitenden. Ein weiteres Highlight ist die Mitbegleitung des Pilotprojektes „Meine Station“ am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau. Dieses Projekt stellt einen einzigartigen Ansatz in Deutschland dar und zielt darauf ab, die Selbstorganisation im klinischen Bereich zu stärken. So wurde zum Beispiel ein zweiwöchig stattfindendes Governance-Meeting auf der chirurgischen Station eingeführt, das es den Ärztinnen und Ärzten ermöglicht, niederschwellig auf strukturelle Probleme im Stationsablauf aufmerksam zu machen, direkt Lösungsvorschläge einzubringen und diese zu evaluieren. Denn im herkömmlichen Stationsbetrieb gibt es oft wenig bis keinen Raum für diese wichtigen Aspekte der Zusammenarbeit.
Inspiration und kontinuierliche Herausforderungen
Der Verein New Work Medizin setzt sich in konkreten Aktionsfeldern mehrere ambitionierte Ziele. Dazu zählen die Weiterentwicklung des Bildungsangebots zu modernen Arbeitsformen in Klinik und Praxis, die Pflege und Erweiterung eines interprofessionellen Netzwerks und die Unterstützung von Modellprojekten wie der Vision einer NWM-Klinik. Ein wichtiges Element ist die Entwicklung einer digitalen Toolbox mit Konzepten für die „neue Medizin-Arbeitswelt“. Diese Toolbox soll aus vier Säulen bestehen: Theorie und Recherche, Anwendung im Klinik-/Praxisalltag, Erfahrungsberichte und an Gesundheitsberufe angepasstes Wissen. Mit seiner ganzheitlichen Herangehensweise, die sowohl die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten als auch die der Mitarbeitenden berücksichtigt, will NWM neue Maßstäbe für die Zukunft der Medizin setzen. Karin Gödicke resümiert: „Wir haben inzwischen den Wandel hin zu einer gemeinnützigen Vereinsstruktur vollzogen. Unser zukünftiger Schwerpunkt widmet sich weiterhin dem gesellschaftlichen Anliegen, einen Wandel im Gesundheitssystem möglich zu machen."