Wie ein Bildungszentrum in Armenien die Inklusion voranbringt
In einem Land, das von gesellschaftlichen Umbrüchen und Konflikten geprägt ist, setzt das Mayri-Zentrum in Jerewan neue Impulse in der inklusiven Bildung. Mit einem Konzept, das Waldorfpädagogik und künstlerische Arbeit verbindet, bildet es Lehrkräfte aus, die lernen, Kindern mit Behinderung neue Perspektiven zu eröffnen. Eine Geschichte über pädagogischen Pioniergeist in herausfordernden Zeiten.
Die Zeder – auf Armenisch „Mayri“ – gilt als Symbol für Widerstandsfähigkeit und Unsterblichkeit. Im alten Armenien wurden Häuser aus dem gesunden und festen Zedernholz gebaut; der Baum selbst symbolisiert den menschlichen Körper als Heimstatt der Seele und Instrument des Willens. Diese tiefgründige Symbolik trägt auch das nach der Zeder benannte Zentrum für Heilpädagogik und Sozialtherapie in Jerewan in sich. Denn auch dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion haben Menschen mit Behinderung in Armenien mit erheblichen Vorurteilen zu kämpfen. „Es ist wichtig, dass zukünftige Lehrerinnen und Lehrer lernen, mit unseren Kindern umzugehen“, erklärt Zaruhi Manukyan, die Direktorin des Zentrums. „Wenn sie keine Erfahrung haben, entwickeln sie oft Ängste vor vermeintlich schwierigem Verhalten.“
Von der Waldorfschule zum inklusiven Zentrum
Die Geschichte des Mayri-Zentrums beginnt 1993 an der ersten Waldorfschule Armeniens. Als Mathematik-, Physik- und Klassenlehrerin erlebte Manukyan dort 1997 ihre erste Begegnung mit einem autistischen Kind. „Wir konnten die sozialen Probleme dieser Kinder lösen, aber nicht ihre Entwicklungsschwierigkeiten“, erinnert sie sich. Dies führte zu einer intensiveren Beschäftigung mit heilpädagogischen Methoden. 2002 wurde eine eigene heilpädagogische Gruppe an der Schule eingerichtet. Als die ersten Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss machten, stand die Frage im Raum: Wie geht es weiter? Die Antwort war die Gründung des Mayri-Zentrums.
PROJEKTDETAILS
Kunst als Weg zur Persönlichkeitsentwicklung
Heute arbeitet das Zentrum eng mit der Staatlichen Pädagogischen Universität Jerewan zusammen. Studierende absolvieren hier ihr Praktikum – und erleben dabei oft eine Überraschung. „Viele können anfangs weder zeichnen noch singen oder tanzen“, berichtet Manukyan. „Sie sind in ihrem Ausdruck sehr eingeschränkt.“ Dies sei eine Folge der sowjetischen akademischen Ausbildung in Armenien, die fast ausschließlich auf die Vermittlung theoretischen Wissens und intellektueller Fähigkeiten ausgerichtet ist. Das Zentrum setzt dagegen bewusst auf künstlerische Arbeit: Theater, Chorgesang und bildende Kunst sind feste Bestandteile des Programms. „Nach einem Jahr sind sie völlig andere Menschen“, freut sich die Pädagogin. „Sie werden offener, interessierter an ihrer zukünftigen Arbeit.“
Von der Theorie zur Praxis: Erfolgsgeschichten der Integration
Die Wirkung dieser ganzheitlichen Ausbildung zeigt sich besonders eindrücklich in den individuellen Erfolgsgeschichten. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Geschichte eines autistischen Jungen, der zunächst jede Form von Begleitung durch Studierende ablehnte. Durch die behutsame Annäherung einer im Mayri-Zentrum ausgebildeten Tutorin während gemeinsamer Zirkusübungen gelang es, eine Verbindung aufzubauen. „Heute lässt er sie nicht nur an seinen Unterrichtsstunden teilnehmen, sondern hat eine richtig warme Beziehung zu ihr entwickelt“, berichtet Manukyan nicht ohne Stolz. Solche Durchbrüche sind keine Einzelfälle – aus den Schulen kommen regelmäßig positive Rückmeldungen über die spürbaren Fortschritte der betreuten Kinder. „In der Arbeit mit Menschen mit Behinderung“, reflektiert Manukyan, „erhalten wir immer mehr, als wir geben.“
Ein Café als Begegnungsort
Um den Austausch zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zu fördern, hat das Zentrum auch ein Café mit eigener Bäckerei eingerichtet. Aufgrund komplexer behördlicher Auflagen kann es zwar nicht dauerhaft für die Öffentlichkeit geöffnet werden, bei Veranstaltungen wird es aber rege genutzt. „Im Herbst haben wir viele Waffeln gebacken und verkauft“, erzählt Manukyan. Eine kleine, aber wichtige Initiative für mehr gesellschaftliche Teilhabe.
Brücken bauen in der Gesellschaft
Die Bedeutung des Zentrums geht weit über die individuelle Förderung hinaus. In einer Zeit, in der Armenien von politischen Spannungen und den Nachwirkungen des Konflikts von 2020 geprägt ist, schafft das Zentrum Räume der Begegnung und des gemeinsamen Lernens. Dies spiegelt sich auch in den kulturellen Veranstaltungen wider: Bei Aufführungen und Ausstellungen präsentieren Studierende und Menschen mit Behinderung gemeinsam ihre künstlerischen Arbeiten. „Als wir kürzlich eine Abschlussveranstaltung organisierten, kamen sogar Professorinnen und Professoren der Universität“, erzählt Manukyan. „Sie waren tief beeindruckt von der Entwicklung ihrer Studierenden.“
Herausforderungen und Zukunftsperspektiven
Die Arbeit des Zentrums steht vor neuen Herausforderungen: Die Universität plant, das Praktikum aus dem Curriculum zu streichen. Gleichzeitig eröffnen sich neue Perspektiven: Die staatlichen Behörden haben dem Zentrum in Aussicht gestellt, es ab September 2025 als offizielles Ausbildungszentrum für inklusive Bildung zu zertifizieren. Diese Anerkennung wäre ein wichtiger Schritt zur Institutionalisierung der Arbeit und würde dem Zentrum ermöglichen, sein Wissen noch breiter zu vermitteln.
Wandel der pädagogischen Herausforderungen
Die Notwendigkeit dieser Aufgabe wird immer deutlicher. „In den Schulen findet man heute kaum noch ein Kind ohne Entwicklungsschwierigkeiten“, beobachtet Manukyan. Ein globales Phänomen, das sie unter anderem auf den Einfluss digitaler Medien zurückführt. Das Zentrum reagiert darauf mit einem erweiterten Ausbildungsangebot: Neben der Heilpädagogik werden auch grundlegende diagnostische Fähigkeiten vermittelt. „Heute brauchen alle Lehrkräfte dieses Wissen, nicht nur diejenigen, die explizit mit behinderten Kindern arbeiten“, betont Manukyan.
Nachhaltiger Einfluss auf das Bildungssystem
Die Wirkung des Zentrums zeigt sich auch in den beruflichen Wegen seiner Absolventinnen und Absolventen. Aus jeder Gruppe von Praktikantinnen und Praktikanten bleiben ein bis zwei dem Zentrum als Mitarbeitende oder Tutoren erhalten. Andere tragen die erlernten Methoden in ihre späteren Arbeitsstellen – von Waldorfkindergärten und -schulen bis zu staatlichen Schulen. Besonders erfreulich ist die Entwicklung der aktuellen Praktikumsgruppe: Obwohl es sich um berufsbegleitend Studierende handelt, zeigen sie ein außergewöhnlich hohes Engagement. „Sie sind voller Fragen über das Leben und die Pädagogik“, berichtet Manukyan. „Eine von ihnen arbeitet bereits als Tutorin für eines unserer Kinder in der Schule.“
Mit Unterstützung der MAHLE-STIFTUNG plant das Zentrum nun neue Projekte. Ein deutsch-armenischer Kulturabend soll die verschiedenen Aspekte der Arbeit zusammenführen: Musik von Beethoven und Mozart wird neben armenischen Komponisten erklingen, deutsche und armenische Poesie werden rezitiert. „Wir haben das Potenzial, diese Kulturen zusammenzubringen“, ist Manukyan überzeugt. Ein weiteres Beispiel dafür, wie das Mayri-Zentrum seinem Namen alle Ehre macht: verwurzelt in der armenischen Kultur und gleichzeitig offen für neue Verbindungen – resilient wie eine Zeder.