Das Vergangene lebendig halten
Es gibt immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Das macht es schwer, eine lebendige Erinnerungskultur aufrechtzuerhalten. Gerade die jüngeren Generationen kennen diesen Teil der Geschichte nur als abstraktes, womöglich unnahbares Kapitel aus ihren Geschichtsbüchern. Ein Berliner Verein versucht nun, mit einem interessanten Konzept die Erinnerung wieder aufleben zu lassen.
Das Jahr 2013 hat das Leben von Maite Billerbeck verändert. Es war das Jahr, in dem sie herausfand, dass ihr Großonkel Hans Röhwer 1943 an der Massenermordung von Juden am Lago Maggiore in der Kleinstadt Meina beteiligt war, ja dass er als befehlshabender Offizier der SS, der „Leibstandarte Adolf Hitler“, sogar den Befehl zur Exekution von 16 Menschen gab; das jüngste Opfer war zwölf Jahre alt. In ihrer Familie war das Thema, wie so oft, tabuisiert, totgeschwiegen worden und so begab sich Maite Billerbeck auf eigene Faust auf die Reise in die Vergangenheit und durch die Archive.
Als praktizierende Psychologin interessierte sie die transgenerationale Weitergabe von Schuld, der eigene Schock über ihre Entdeckung und das Verhalten der Familie saß tief. Auf ihrer Suche stieß sie mithilfe eines NS-Historikers auf die Tochter der einzigen Überlebenden des Massakers – Rossana Ottolenghi, ebenfalls eine Psychologin, die in Mailand lebt. Ihre Mutter war damals 13 Jahre alt, die Familie wurde von einem befreundeten Diplomaten vor der Erschießung gerettet. Beide Frauen merkten schnell, dass sie – persönlich und professionell – etwas verbindet: Wie gehen wir mit Schuld und mit Traumata um, die wir von unseren Vorfahren „geerbt“ haben?
Ottolenghi sorgte kurzerhand dafür, dass Billerbeck zur Gedenkfeier zum Jahrestag des Massakers ins Kulturzentrum in Meina am Lago Maggiore eingeladen wurde. Dort bat die Mittfünfzigerin auf Italienisch öffentlich um Verzeihung für die Gräueltaten und formulierte die Frage, die wohl viele der Anwesenden beschäftigte: „Wie finden wir heraus aus dem ewigen Kreislauf von transgenerationaler Weitergabe und der Last von Schuld beziehungsweise Schuldgefühl und Scham auf Seiten der Täter Nachkommen und der Last einer traumatischen Erbschaft auf Seiten der Opfer-Nachkommen?“ Indem man sich, auch als Nachkomme, der familiären Geschichte stellt und Familiennarrative infrage stellt, so lautete ihre Antwort in ihrer Ansprache, die spontane Ovationen des Publikums hervorrief. „So etwas hätte ich nie erwartet. Ich war völlig überwältigt“, schilderte Billerbeck die Reaktionen. Die Anwesenheit einer Verwandten, die den Schmerz der Überlebenden anerkennt und die Taten ihres Großonkels verurteilt, scheint einen heilenden Impuls gegeben zu haben.
Ein Impuls auch für die jüngeren Generationen
„Ich habe viel Neues über die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges gelernt. Außerdem haben wir als Klasse mitgeholfen, ein sehr schönes Projekt zu verwirklichen. Ich denke unser musikalischer Beitrag hat die ganze Veranstaltung sehr gut abgerundet.“
Ruben, 17 Jahre alt
Zusammen mit ihrem Lebensgefährten Andreas Peer Kähler überlegte Billerbeck, was man tun könne, damit Ereignisse wie das Massaker in Meina und das Leid der Opfer nicht zum Abstraktum werden. Kähler, der Musiker und Komponist ist und das Kammerorchester unter den Linden leitet, komponierte spontan eine Gedenkmusik. Während der Beschäftigung mit dem Thema entstand die Idee, eine Gedenkveranstaltung auch in Berlin zu organisieren. Sie fand am 8. Oktober 2023, am 80. Jahrestag der Gräueltaten, unter der Ägide des Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein, in der Berliner Mendelssohn-Remise statt. „Für uns ist es ein ganz wichtiger Aspekt gewesen, dass wir nicht nur aus der Perspektive älterer Persönlichkeiten, älterer Zeitgenossen zurückschauen, sondern dass wir das Ganze auch als Impuls nehmen, um in der Zukunft etwas zu bewirken. Und das geht natürlich vor allen Dingen in Richtung der jungen Generation“, beschreibt Andreas Peer Kähler das Veranstaltungsformat. In seiner Gedenkkomposition wurden die Namen aller Ermordeten genannt – vorgetragen von einem Sprechchor und begleitet von einem Percussionensemble von Schülerinnen und Schülern der 11. Klasse der Berliner Rudolf-Steiner-Schule. Im Vorfeld hatten sie sich in Workshops mit eingeladenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit dem Thema auseinander gesetzt, um ein Bewusstsein für die Zusammenhänge zu entwickeln. „Die Wichtigkeit solcher Veranstaltungen ist meiner Meinung nach fraglos und ich glaube, das Lago-Maggiore-Projekt hat uns als Klasse noch mal vor Augen geführt, wie ungemein wichtig es ist, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs weiterzutragen und niemals zu vergessen“, resümiert die 17-jährige Lara.
Auch Rossana Ottolenghi war dabei. „Es geht hier nicht um Vergebung, man kann nicht für andere vergeben“, sagte sie der Rheinischen Post. Man könne aber versuchen, Risse in den menschlichen Beziehungen zu flicken. Inzwischen ist aus dem Projekt der „Verein zur Förderung der Erinnerungskultur“ entstanden. Er möchte nicht nur Impulse zur Aufrechterhaltung des Erinnerns und zur Förderung einer Erinnerungskultur geben, sondern auch gesellschaftspolitische und psychologische Aspekte der Gegenwart thematisieren – zum Beispiel die Frage, was dem wieder erstarkten Antisemitismus und Neofaschismus entgegengesetzt werden kann. Zu beiden Aspekten tritt der Wunsch nach einer ausdrucksstarken und zeitgemäßen künstlerischen Darstellung mit der Einbindung von Jugendlichen als ausdrücklicher Beitrag für die Zukunft.
Im nächsten Schritt ist nun ein deutsch-italienischer Schüleraustausch geplant. „Der Dialog junger Menschen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wird immer schwieriger wegen des zeitlichen Abstands. Darauf wollen wir reagieren, indem wir Social Media integrieren und das Ganze medialer aufziehen“, erläutert Kähler. „Wir wollen die Jugendlichen mit bestimmten Aufgaben einbeziehen, indem sie zum Beispiel kleine Filme herstellen, sodass wir sie dort abholen, wo sie sich zu Hause fühlen.“ Auch der künstlerische Aspekt – die Herzensangelegenheit des Dirigenten – soll nicht zu kurz kommen; die Dreigliedrigkeit bei der Gedenkveranstaltung, das historische, das psychologisch-transgenerationale und das künstlerische Element seien schließlich maßgeblich für den Erfolg der Veranstaltung gewesen, so Kähler.
Mehr Informationen unter: www.verein-erinnerungskultur.de www.kudl-berlin.de
PROJEKTDETAILS
Wissen kompakt: Wehrmacht und SS in Italien
Nach dem Sturz Mussolinis und der darauf folgenden Kapitulation Italiens im September 1943 besetzten deutsche Truppen rasch große Teile des Landes. Italien, das zuvor ein Verbündeter Nazi-Deutschlands gewesen war, wurde zum Schauplatz eines brutalen Besatzungsregimes.
Die deutsche Wehrmacht und die Waffen-SS waren direkt an einer Reihe von Massakern beteiligt, die als Kriegsverbrechen gelten. Diese Gräueltaten richteten sich gegen italienische Partisanen, die gegen die Besatzung kämpften, sowie gegen die Zivilbevölkerung, die oft kollektiv für Widerstandsakte bestraft wurde. Ein bekanntes Beispiel ist das Massaker von Marzabotto zwischen September und Oktober 1944, bei dem die SS und Wehrmachtseinheiten hunderte Zivilisten in
einem brutalen Vergeltungsschlag ermordeten. Ähnliche Massaker ereigneten sich in Sant‘Anna di Stazzema und in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom, wo die Grausamkeit der Besatzer besonders deutlich wurde.
Diese Verbrechen waren Teil einer umfassenderen Strategie der „verbrannten Erde“, die darauf abzielte, den italienischen Widerstand durch Terror und Gewalt zu brechen. Die Verantwortung für diese Taten liegt sowohl bei den ausführenden Soldaten als auch bei der militärischen und politischen Führung Nazi-Deutschlands, die solche Aktionen anordnete oder duldete.
Gedenkstein für die Opfer des Massakers von 1943 in Meina