Über die Bewahrung eines der ältesten Kulturgüter.

Von der Saat zur Seele

Was der Mensch seit Jahrtausenden als sein kostbarstes Gut hütet – das Saatgut für die nächste Generation – droht heute in der Hand weniger Global Player zur patentierten Handelsware zu werden. Der Verein Kultursaat stemmt sich seit 30 Jahren gegen diesen Trend und entwickelt mit biologisch-dynamischen Methoden neue samenfeste Sorten. Eine Geschichte über die Pflege von Kulturpflanzen für die Zukunft.

Von der Urheimat der Landwirtschaft in die Zukunft

Unsere Kulturpflanzen, wie wir sie heute kennen, gehen auf verschiedene Wildpflanzen zurück, die vor einigen tausend Jahren in die Obhut des Menschen genommen wurden. Sie sind der Grundstein für die Entwicklung der Landwirtschaft und gleichzeitig Teil der sich mit den jeweiligen Bedingungen fortentwickelnden Agrarkultur. Doch was einst als kulturelle Errungenschaft begann, ist heute zu einem hochkomplexen Wirtschaftszweig geworden, in dem wenige global agierende Unternehmen den Markt für unsere Lebensgrundlagen dominieren.

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Eine Frage der Unabhängigkeit

Die zunehmende Abhängigkeit der Landwirtinnen und Landwirte von großen Saatgutkonzernen war es auch, die in den 1980er Jahren erste biologisch-dynamische Gärtnerinnen und Gärtner dazu bewog, sich dem Thema Saatgutvermehrung und -züchtung zu widmen. „Es gab eine wachsende Skepsis gegenüber der Hybridzüchtung“, erinnert sich Michael Fleck, Geschäftsführer des 1994 gegründeten Vereins Kultursaat. Das Problem: Hybridsorten, die heute bei vielen Gemüsearten dominieren, können zwar hohe Erträge liefern, dafür muss aber jedes Jahr das Saatgut neu gekauft werden. „Das ist gewissermaßen eine Abofalle für die Bauern“, erklärt Fleck. „Es passt nicht zum Kreislaufgedanken, wie wir ihn im ökologischen Landbau haben.“

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Rund 80 Prozent der zugelassenen Tomaten sind heutzutage F1-Hybriden. Von den gut 4.000 in der EU zugelassenen Tomatensorten kann also nur ein geringer Teil von den Landwirtinnen und Landwirten selbst nachgebaut werden.

PROJEKTDETAILS

Die Alternative: Samenfeste Sorten

Der Begriff „samenfest“ mag zunächst irreführend klingen – es geht nicht um die Festigkeit der Samen, sondern um die Beständigkeit der Sorteneigenschaften. „Eine samenfeste Sorte gibt ihr gesamtes Potenzial und die Komposition ihrer Qualitätseigenschaften an die nächste Generation weiter“, erläutert Fleck. Anders als bei F1-Hybriden können Landwirtinnen und Landwirte also einen Teil ihrer Ernte für die Aussaat im nächsten Jahr verwenden.

Doch der wirtschaftliche Druck ist hoch: Hybridsorten bringen oft höhere Erntemengen bei einheitlicherer Entwicklung. „Wenn man sich dann noch darüber klar wird, dass man nach zweimal ernten durch sein muss, weil letztlich der (finanzielle) Aufwand für das Ernteteam so hoch ist, dann merkt man: Wenn ich jetzt bei einer samenfesten Sorte, die schon 20-30 Prozent weniger Ertrag bringt, vielleicht noch vier oder fünf statt zwei Erntedurchgängen benötige, dann kommt die Wirtschaftlichkeit schnell an Grenzen“, räumt Fleck ein.

 

Züchtung mit allen Sinnen

Bei Kultursaat geht es um weit mehr als nur um äußere Merkmale wie Form oder Ertrag. „Wir haben einen ganzheitlichen Ansatz“, betont Fleck. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Geschmack, ein Aspekt, der in der konventionellen Züchtung lange keine Rolle spielte. Bei der sogenannten Geschmacksauslese werden alle nach morphologischen Merkmalen vorselektierten Pflanzen einzeln verkostet. Alle negativ abweichenden Exemplare werden verworfen und ausschließlich die wohlschmeckenden Exemplare weitergeführt.

Eine besondere Herausforderung stellt dies bei zweijährigen Kulturen wie Rote Bete oder Möhren dar: Hier wird das Ernteorgan für die generative Phase, und damit die Samengewinnung im Folgejahr benötigt. „Nach der Überwinterung der vorselektierten Rüben wird im Frühjahr nur ein kleines Rübenstück verkostet“, erklärt Fleck. „Danach werden die angeschnittenen Rüben für den Samenbau möglichst direkt gepflanzt.“

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Qualität im umfassenden Sinne

Die Qualitätsprüfung erfolgt bei Kultursaat jedoch nicht allein über die menschlichen Sinne. Mit der Kupferchlorid-Kristallisation nach Pfeiffer und anderen bildschaffenden Methoden werden auch subtilere Qualitätsaspekte erfasst. „Wenn man sich damit beschäftigt, was für ein Wesen diese Pflanze hat und welche Kräfte da noch mitwirken, dann merkt man, da ist irgendetwas, was wir noch nicht genau kennen“, beschreibt Fleck die tiefere Dimension der Arbeit.

Diese ganzheitliche Herangehensweise schließt auch die Umgebung mit ein: „Alle züchterischen Einflussnahmen geschehen im Zusammenhang eines biologisch-dynamischen Betriebes“, betont er. Das bedeutet: geschlossene Betriebskreisläufe, Kompostwirtschaft und die Anwendung biologisch-dynamischer Präparate.

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Eine Frage der Generation(en)

Nach 30 Jahren erfolgreicher Arbeit mit etwa 140 neu entwickelten Sorten steht Kultursaat vor einer besonderen Herausforderung: dem Generationenwechsel. „Erfreulich ist, dass es immer mehr interessierte junge Menschen gibt, die sich in unserem Sinne für die anstehenden Aufgaben einbringen wollen, und nicht nur graue Eminenzen“, freut sich Fleck.

Dabei gilt es für die Nachwuchszüchterinnen und ‑züchter, nicht nur die praktischen Fertigkeiten zu erlernen, sondern auch die finanziellen und organisatorischen Grundlagen für ihre Arbeit zu schaffen. Die MAHLE-STIFTUNG unterstützt diese Prozesse daher durch die Förderung spezieller Projekte.

Neue Herausforderungen, neue Wege

Dabei wird deutlich: Die alten Sorten zeigen sich heute teilweise nicht mehr so wie früher. „Die Bedingungen haben sich einfach geändert“, erklärt Fleck. Klimawandel und veränderte Anbaumethoden erfordern neue Ansätze. Ein Beispiel ist das „COLLABO-Projekt“ zur Tomatenzüchtung, bei dem die Beteiligten an verschiedenen Standorten züchterisch zusammenarbeiten. „Wir nutzen verschiedene Umwelten, die wiederum verschiedene Herausforderungen für den Tomatenanbau bieten“, erläutert er.

Ein konkretes Problem: Die verschiedenen, die Blätter der Tomatenpflanzen befallenen Erreger, etwa Cladosporium und Phytophthora, haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. „Da einfach nur stehen zu bleiben auf dem Niveau der Sortenentwicklung der 1970er Jahre, das funktioniert im heutigen, durchaus intensiven Bio-Erwerbsanbau gar nicht mehr“, so der Experte. Der Schlüssel liegt in der Zusammenarbeit: An verschiedenen Standorten in und um Deutschland werden die Pflanzen unterschiedlichen Bedingungen und Anforderungen ausgesetzt und die besten Exemplare für die Weiterzucht gemeinsam ausgewählt.

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Kulturgut für die Zukunft

Die Arbeit von Kultursaat ist mehr als nur Pflanzenzüchtung, sie ist kulturschaffend im besten Sinne. „Wir verstehen die Kulturpflanzenarten und deren Sorten nicht als Eigentum“, betont Fleck. Der Verein verzichtet bewusst auf Patente und exklusive Schutzrechte. Stattdessen geht es darum, die biologische Vielfalt zu fördern – auf den Äckern, in den Regalen und auf den Tellern.

Die Herausforderungen der Zukunft sind groß: Die Bundesregierung will den Anteil des ökologischen Landbaus bis 2030 auf 30 Prozent steigern. Dafür braucht es angepasste Sorten, die unter Bio-Bedingungen gut gedeihen und auskömmliche Erträge liefern. Die sich wandelnden Witterungsverhältnisse erfordern zudem resiliente Pflanzen, die mit Trockenheit, Hitze, intensiverer Sonnenstrahlung aber auch Kälteeinbrüchen, Starkregenereignissen, neuartigen Pathogenen und ähnlichem zurechtkommen. Mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung und dem Engagement der nächsten Generation von Züchterinnen und Züchtern ist Kultursaat gut aufgestellt, um diese Herausforderungen anzugehen. Für ein Kulturgut, das es für kommende Generationen zu bewahren und weiterzuentwickeln gilt.