„Als Mensch geboren, um gen Himmel zu streben“

Eein Besuch bei der Jungen Kultur

„Bruder, hörst du meine Stimme noch?“ beginnt ein Teilnehmer die Rezitation seines Gedichts. Er kniet auf dem Boden am Ende eines Raums im Gebäude der Stuttgarter Christengemeinschaft, in dem sich rund 30 junge Menschen versammelt haben. Vier Kandelaber spenden weiches Kerzenlicht; es gib kein „Plenum“, sondern man sitzt in kleinen Gruppen im Kreis, ohne räumlichen Fokus, fast als wollten die Organisatoren sagen: „Der einzige Fokus, der hier zählt, ist der geistige, der einzige Mittelpunkt derjenige, den jeder in sich trägt.“

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Im Laufe dieses Freitagabends werden wir einige Anwesende hören – im Wort und im Klang, andere wiederum sind gekommen, um das Dargebotene aufzunehmen, es auf sich wirken zu lassen. Als eine „Werkstatt“ charakterisiert Aliki Kristalli das Format, und tatsächlich scheint es keine festgelegten Regeln zu geben, außer dass das „Werk“ aus einem eigenen Impuls entstanden sein muss. Gedichte werden vorgetragen, Aphorismen, Erzählfragmente. Ein Teilnehmer liest Passagen aus seiner im Entstehen begriffenen Novelle. Zwischen den einzelnen Beiträgen erklingen kongenial improvisierte Ton-Passagen auf dem Klavier und der Gitarre.


Metamoderne Suchbewegungen

Die Anwesenden kreisen um Themen, die universell und doch zutiefst individuell sind: die Suche nach Identität, der Umgang mit Gefühlen wie Ohnmacht, Antipathie oder Verlust. In einem bewegenden Gedicht beschreibt eine junge Autorin das Gefühl, mit einem Bein fest im Leben zu stehen und mit dem anderen in einem Nebel aus Unsicherheit zu verschwinden.

Es ist diese Ambivalenz zwischen Standfestigkeit und Zerbrechlichkeit, die den Abend prägt. Immer wieder tauchen Fragen auf, die nie direkt gestellt, sondern in poetischer Sprache umschrieben werden: Wer bin ich, wenn ich mich selbst noch suche? Wie stehe ich zu anderen, wenn ich mich selbst nicht greifen kann? „Als Mensch geboren, um gen Himmel zu streben“, nennt es eine Teilnehmerin.


Die Kraft des Unfertigen

Ein verbindendes Element der Beiträge scheint die Sehnsucht nach Unfertigem zu sein, dem Bedürfnis, keine vorgefertigten Antworten zu akzeptieren, sondern Räume für eigene Erfahrungen zu schaffen. Die Werkstatt wird damit zu einem Ort der Entdeckung: für Gedanken, die reifen dürfen, für Gefühle, die zunächst unausgesprochen bleiben, und für Wahrheiten, die sich erst im Austausch formen.

 

Spiritualität in der Adoleszenz

Viele der Texte berühren auf subtile Weise spirituelle Fragen. Ein Gedicht spricht von der Begegnung mit Christus „auf dem Schlachtfeld der Seele“ und davon, sich von alten Wunden heilen zu lassen. Eine Sprecherin setzt sich in einem eindringlichen Text mit dem Phänomen der Ohnmacht auseinander: „Wie ausgeliefert, wie hilflos fühle ich mich in dir“, beginnt sie, um dann in einem gedanklichen Prozess zu ergründen, ob echte Ohnmacht überhaupt existiert, solange man noch bei Bewusstsein ist. „Vielleicht lehrst du mich, zuerst in die Wahrnehmung zu gehen und die Geduld zu haben, dabei eine Weile zu bleiben“, lautet ihre Erkenntnis.

Ein anderer junger Teilnehmer reflektiert über die Antipathie und unseren gesellschaftlichen Umgang damit. Seine Vision: „Eine Welt, in der wir all unsere Gefühle erstmal fühlen, beobachten dürfen. Sie sogar aussprechen und uns darüber austauschen können. Alles gehalten in der Liebe.“

Diese Texte offenbaren eine vielleicht generationstypische Form der Spiritualität: keine Dogmen, keine festgelegten Glaubenssätze, sondern eine bewegliche, suchende Haltung, die offen für Wandlung bleibt.


Offen in der eigenen Verletzlichkeit

Bemerkenswert ist die Offenheit, mit der die jungen Menschen ihre inneren Konflikte und Verwundungen zur Sprache bringen. In einem besonders berührenden Gedicht wendet sich eine Teilnehmerin direkt an Christus: „Ich habe zwei Wunden. In der Mitte lebt eine Leere, die mir zuflüstert: Du bist nicht gut genug.“ Die spirituelle Dimension ist dabei keine Flucht aus der Realität, sondern wird als Kraft verstanden, die hilft, sich den eigenen Schatten zu stellen.


Eine neue Generation findet ihre Sprache

Was sich an diesem Abend zeigt, ist mehr als eine Ansammlung künstlerischer Darbietungen. Es ist der Versuch einer Generation, ihre existenziellen Fragen in eine eigene Sprache zu fassen. „Manchmal bin ich sehr frustriert mit unserer Sprache“, bekennt eine Teilnehmerin. „Dann möchte ich etwas ausdrücken können und merke, ich habe die Worte nicht.“ Doch gerade in diesem Ringen um Ausdruck, in der geduldigen Suche nach den richtigen Worten, entsteht etwas Neues: Eine Sprache der Authentizität, die nicht vorgibt, alle Antworten zu kennen, sondern die Fragen selbst als wertvoll würdigt.

 


Ein universelles Thema: Der Mensch im Werden

Was diesen Abend so eindrücklich macht, ist, dass sich aus der Vielfalt der Stimmen ein gemeinsames Thema herausschält: das Menschsein als Prozess. Die Texte sind Zeugnisse eines Werdens, das sich nicht in fertigen Antworten erschöpft. Sie spiegeln den Mut, die eigene Zerbrechlichkeit anzunehmen, und die Hoffnung, dass aus dieser Annahme neue Stärke erwachsen kann.

Die „Junge Kultur“ ist nicht nur eine Werkstatt der Kunst, sondern auch eine Werkstatt des Lebens. Ein Ort, an dem junge Menschen ihren Platz in der Welt suchen – und ihn vielleicht auch finden.