Die Kunst der Öffnung

Wie junge Menschen neue Wege zur Spiritualität suchen

In Stuttgart geschieht etwas Bemerkenswertes. Auf einem Hügel, wo sich fünf große anthroposophische Ausbildungseinrichtungen in fußläufiger Entfernung zueinander befinden, entsteht eine neue Form der kulturellen Begegnung. Pfarrerin Aliki Kristalli, die nach Jahren als Dozentin am Waldorferzieherseminar heute in der Christengemeinschaft Stuttgart-Mitte wirkt, beobachtet diese Entwicklung mit wachem Interesse und begleitet sie aktiv im Projekt „Junge Kultur“.

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„Wir haben hier in Stuttgart eine besondere Situation“, erklärt Kristalli. „Etwa 600 Studierende kommen jedes Jahr mit einer bestimmten Gesinnung zu uns, begegnen sich hier und verbringen drei bis fünf Jahre miteinander auf dem Hügel.“ Diese Konzentration junger Menschen schafft eine besondere Dynamik – und stellt die etablierten Strukturen vor neue Herausforderungen.

Mit feinem Gespür für die Zwischentöne beschreibt Kristalli die aktuelle Situation: „In unserer anthroposophischen Landschaft gibt es etablierte Kunst, die finanziert und aufgesucht wird. Aber es gibt auch diese interessante Avantgarde, die Grenzen überschreitet und neue Entwicklungen anstößt.“ Die junge Generation, so ihre Beobachtung, sucht dabei weniger nach fertigen Antworten als nach Räumen der Begegnung und des Experiments.

PROJEKTDETAILS

Die Sehnsucht nach dem Unfertigen

„Die Welt kommt mir so auserzählt vor“, zitiert Kristalli eine Studierende – ein Satz, der die Grundstimmung einer ganzen Generation einzufangen scheint. „Die jungen Menschen wollen keine fertigen Bilder mehr, nichts was abschließt oder einen fertigen Eindruck macht.“ Stattdessen suchen sie nach Möglichkeiten, selbst zu gestalten und zu entdecken.

Diese Sehnsucht nach authentischer Erfahrung zeigt sich beispielhaft in einem Kunstprojekt, das Kristalli in ihrer Gemeinde initiiert hat. „Die jungen Künstlerinnen und Künstler haben als Erstes alle Abdeckungen im Haus entfernt“, berichtet sie. „Sie sagten: 'Bei uns ist so viel abgedeckt – Deckchen, Abdeckungen vor den Heizungen. Wir wollen sehen, was wirklich ist.'“ Eine symbolische Handlung, die mehr aussagt als lange theoretische Abhandlungen.

Neue Wege der Begegnung

Was für die ältere Generation zunächst verstörend wirken mag, erweist sich als fruchtbarer Boden für echten Dialog. „Wir schaffen uns mit unseren Projekten die Möglichkeit, etablierte Kunst, experimentierende Kunst und ausdrücklich experimentelle Kunst zusammenzubringen“, erklärt Kristalli. „Wenn diese verschiedenen Elemente zusammenkommen, entsteht etwas unglaublich Spannendes und Neues.“

Besonders beeindruckt zeigt sich Kristalli von der ausgeprägten Sensibilität der jungen Generation: „Es ist eine hochgradige Feinfühligkeit und Mitschwingfähigkeit zu beobachten, die weit über das hinausgeht, was ich in meiner Biografie jemals im anthroposophischen Feld erlebt habe.“ Diese neue Qualität der Wahrnehmung eröffnet auch neue Möglichkeiten der spirituellen Erfahrung.

Die Kunst des Raumgebens

Doch wie geht man als Institution mit dieser neuen Dynamik um? „Es ist nicht leicht, sich zurückzunehmen“, gibt Kristalli zu. „Gerade Dozierende haben oft die Tendenz, zu viel zu sprechen, den Raum zu füllen. Aber genau darum geht es: Räume zu öffnen und sie nicht sofort wieder mit eigenen Vorstellungen zu füllen.“


Zwischen den Polen

Diese neue Form der Kulturarbeit bezeichnet Kristalli als „metamodern“ – ein Ansatz, der die großen Erzählungen der Moderne hinter sich lässt, ohne in die reine Dekonstruktion der Postmoderne zu verfallen. „Es geht um das Schwingen zwischen den Polen“, erklärt sie. „In dieser Bewegung zwischen den Gegensätzen entsteht etwas Drittes, Neues – eine spirituelle Dimension, die nicht theoretisch vermittelt, sondern unmittelbar erfahren wird.“

Ein Blick in die Zukunft

Die Herausforderung für die etablierten Institutionen liegt nun darin, diese neue Form der Spiritualität nicht nur zuzulassen, sondern aktiv zu fördern. „Wir sind in der Gefahr stehenzubleiben, in dem was uns vertraut ist“, reflektiert Kristalli. „Aber die jungen Menschen sind schon ein Stück weiter. Die Frage ist: Können wir ihnen den Raum geben, den sie brauchen?“

Ihre Erfahrungen machen Mut: Wo solche Räume entstehen, zeigt sich eine erstaunliche Kraft und Eigeninitiative. Die neue Generation mag anders ticken als ihre Vorgänger, aber ihr Engagement ist nicht weniger intensiv – es braucht nur andere Formen, sich zu entfalten. Eine Erkenntnis, die weit über den anthroposophischen Kontext hinaus Bedeutung haben dürfte.


Mehr Informationen unter: www.christengemeinschaft.de/gemeinden/stuttgart-mitte