Ein Entwicklungs-Labor für die Jugend

Das Freie Jugendseminar in Stuttgart

Wenn man den Stereotypen glauben darf, sind die jungen Leute heutzutage faul, verhätschelt und haben zu hohe Ansprüche. Doch sind sie nicht eher perspektivlos, orientierungslos und daher verängstigt – in einer Welt, die von einer Krise in die nächste schlittert? Schon seit 60 Jahren bietet das Freie Jugendseminar einen Ort, wo junge Menschen von 18 bis 28 Jahren daran arbeiten können, ihren Platz im Leben zu finden, an ihren Interessen und Neigungen zu feilen, sich persönlich weiterzuentwickeln und so einen gangbaren Lebensweg zu finden, für sich selbst und für ihren Beitrag in der Gesellschaft.

Wer die Stufen zum Freien Jugendseminar erklimmt, der findet auf halber Strecke einen bezaubernden Ort der Ruhe und der Weitsicht: Eine kleine Holzterrasse ist hier in den Hang an der Stuttgarter Uhlandshöhe eingelassen und bietet, umgeben von viel Grün, einen fantastischen Ausblick bis hin zum Neckartal. Marco Bindelli lässt hier den Blick in die Ferne schweifen und erzählt von den Anfängen des Seminars, von seinen Angeboten und von aktuellen Herausforderungen.

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„Das Freie Jugendseminar in Stuttgart ist eine ganz besondere Bildungseinrichtung auf anthroposophischer Grundlage. Hier verbringen junge Menschen im Alter von 18 bis 28 Jahren ein oder mehrere `Trimester´, um sich persönlich weiterzuentwickeln, sich selbst zu erforschen und so schließlich ihren ganz individuellen Weg im Leben zu finden“, erklärt der Leiter des Jugendseminars. „Unsere Arbeit besteht im Wesentlichen darin, das freizulegen. Wir sagen den Leuten nicht, du musst dies oder das machen, sondern wir versuchen durch die Arbeit eigentlich das wieder sichtbar zu machen, was sie ohnehin in sich tragen.“

Dabei ist das Seminar weit mehr als nur ein Ort des Lernens. Es ist eine Gemeinschaft, in der die Seminarteilnehmerinnen und  -teilnehmer auch zusammenleben. „Das ist mit das Wichtigste, dass hier alle in einem Haus wohnen und nicht nur für die Kurse zusammenkommen“, betont Bindelli. Diese Gemeinschaft von jungen Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern bildet den Rahmen für eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt.

PROJEKTDETAILS

Aus dem Geist der Jugend entstanden

Die Gründung des Freien Jugendseminars geht auf das Jahr 1963 zurück und war stark von jungen Menschen geprägt. „Das Besondere bei der Gründung war, dass es nicht von klugen älteren Leuten gemacht wurde, sondern dass der Impuls von der Jugend selber kam“, erzählt Bindelli.

Schon seit Mitte der 1950er Jahre gab es in Stuttgart sogenannte Berufsorientierungskurse, die junge Menschen mit der Anthroposophie und anthroposophischen Berufen vertraut machten. Doch das war den Teilnehmern nicht genug. Sie wollten tiefer eintauchen, mehr ausprobieren können. „Wenn ihr wollt, dass wir uns so tief verbinden mit Anthroposophie und dann auch noch eventuell mit einem Beruf, der davon geprägt ist, dann müssen wir das vorher auf Herz und Nieren prüfen können und auch was ausprobieren können“, fasst Bindelli die damalige Forderung der Jugend zusammen. Unterstützt wurde die Gründung des Seminars auch von den Gebrüdern Mahle, den Gründern der MAHLE-Stiftung, die das Seminar bis heute fördert.

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Angebote für alle Lebensbereiche

Das Seminar bietet ein vielfältiges Programm, das von Kursen zu verschiedensten Themen über künstlerische Aktivitäten bis hin zu sozialen Arbeiten reicht. Ein typischer Tag beginnt mit einem gemeinsamen „Warm-up“ mit Musik oder Rhythmik. Dann folgen Kurse, die von Dozenten aus anthroposophischen Einrichtungen in der Umgebung, aber auch von weiter hergegeben werden. Themen wie „Krankheit und Schicksal“ oder „Ansätze für ein sozialverträgliches Wirtschaftsleben“ werden hier bearbeitet.

Am Nachmittag stehen dann oft soziale Arbeiten auf dem Programm, bei denen die Seminarteilnehmer gemeinsam das Haus und den Garten pflegen. Aber auch der Austausch untereinander, selbstorganisierte „Colloquia“, finden hier ihren Platz. Außerdem gibt es den „Aktionstag" am Mittwoch, an dem die Seminarteilnehmer sich gegenseitig unterrichten. „Das ist schon auf dem Weg zum selbstbestimmten Studieren“, kommentiert Bindelli.

Ein besonderes Highlight sind die Ausflüge und Reisen, die Teil des Curriculums sind, wie beispielsweise eine Exkursion in die Vogesen.

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Aktuelle Herausforderungen

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Heute, 60 Jahre nach seiner Gründung, ist das Freie Jugendseminar gefragter denn je. „Wir sind immer ausgebucht, die letzten Jahre in der Corona-Zeit waren wir sogar oft überbucht", berichtet Bindelli. Doch gerade die Corona-Pandemie hat auch Herausforderungen mit sich gebracht. Viele junge Menschen kommen heute „fast wie in einem Burnout“ im Seminar an, wie Bindelli beobachtet. „Die natürlichen Lebenskräfte sind so heruntergefahren, dass sie oft einfach gar keine Überschusskraft mehr haben.“ Er berichtet von einer 18-Jährigen mit Turbo-Abitur, die ihm beim Aufnahmegespräch gegenübersaß und sagte: „Herr Bindelli, wenn ich noch 4 bis 5 Jahre so weitermache, bin ich tot.“ Die Bilderbuch-Schulkarriere hatte ihren Tribut gefordert. „Sie hat die erste Zeit im Seminar genutzt, um überhaupt wieder zu sich zu kommen“, erzählt Bindelli. „Dann hat sie ihre Musikalität wiederentdeckt und gepflegt und sich getraut, diesen Weg auch im Studium zu gehen – obwohl alle Welt von ihr erwartet hatte, dass sie Medizinerin wird. Durch die Musik ist sie aufgeblüht.“ Er berichtet von einer anderen Teilnehmerin, die das Jugendseminar als „Schicksalsflughafen“ bezeichnete. Denn viele kämen ja tatsächlich mit dem Flugzeug an. Und im Seminar sei es dann als fiele der Strom aus und es gäbe ein Jahr lang kein Kerosin mehr und alle hockten zusammen in der Wartehalle, lernten einander kennen und merkten plötzlich: „Wir haben was miteinander zu tun und erleben unglaublich viele Dinge intensiv miteinander und nach einem Jahr geht das Licht wieder an und wir sitzen wieder in Flugzeugen und fliegen in die Welt“.

Das Seminar bietet den jungen Menschen also auf vielfältige Weise einen Raum, in dem sie wieder zu sich finden können. „Neue Lebenskraft, bei der man zuschauen kann, wie sie wächst, entsteht in dem Moment, wo sie merken, ich darf mit rein, ich darf mich verbinden, ich darf das selber wollen und nicht nur ich muss das machen“, so Bindelli. Das sei das Gegenteil vom so genannten „Bulimie-Lernen“ meint er schmunzelnd, also dem „Fressen“ und „Ausspucken“ von Wissen auf Kommando.

Ein Ort der Zukunft

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Das Jugendseminar ist, wie Marco Bindelli es formuliert, ein „Bildungslabor“, in dem jedes Jahr aufs Neue mit den Teilnehmenden gearbeitet wird. „Wir können hier nicht ein Routine-Programm abspulen“, betont er. Stattdessen gehe es darum, immer wieder neu in Kontakt zu kommen und herauszufinden, was die jungen Menschen wirklich brauchen.

Damit ist das Jugendseminar auch nach 60 Jahren noch immer hochaktuell – als ein Ort, an dem die Zukunft gestaltet wird und wo sich junge Menschen gegenseitig und mit sich selbst verbinden. „Kurz zusammengefasst, wir suchen hier eigentlich den Weg vom Kopf zum Herz“, sagt Bindelli. Und genau das macht das Freie Jugendseminar zu einem einzigartigen Lernort für die Jugend, der auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird.

Mehr Informationen unter: www.jugendseminar.de