Bildung kann man nicht digitalisieren

Von Charles Darwin stammt die Aussage, dass nicht die Spezies überlebt, die am intelligentesten oder am stärksten ist, sondern diejenige, die sich am besten an Wandel anpassen kann. Der durch Corona verursachte Digitalisierungsschub ist eine Form von gesellschaftlichem Wandel, der im traditionell sehr analogen Schulbereich vermutlich am deutlichsten wird. Die Kernfrage ist dabei nach wie vor, wie es Lehrerinnen und Lehrer, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler schaffen, die Digitalisierung beim Lehren und Lernen gewinnbringend einzusetzen. 

„Die Schulbildung selbst – mehr noch: Bildung allgemein – kann nicht digitalisiert werden“, sagt Thomas Damberger, Professor für „Bildungs- und Erziehungswissenschaften im Kontext der Digitalisierung“ an der Freien Hochschule in Stuttgart. „Es gibt also keine digitale Bildung, aber es gibt natürlich digitale Medien, die in schulischen Bildungskontexten von Bedeutung sind. Wesentliche Vorteile beim Einsatz von digitalen Medien in der Schule bestehen darin, dass Materialien einfach und schnell geteilt werden können, kollaboratives Arbeiten erleichtert und asynchrones gemeinsames Arbeiten möglich wird. Gerade mit Blick auf adaptive Lernprogramme ist es mithilfe digitaler Medien machbar, eine Anpassung des Lernmaterials an die Bedürfnisse und das Tempo jedes einzelnen Lernenden vorzunehmen. Digitale Werkzeuge wie Grafik- und Videosoftware bieten zudem neue Wege, um Kreativität und Innovation im Unterricht zu fördern.“

Deutschland ist schlecht vorbereitet

Doch dafür müssen die Medien auch eingesetzt werden. Gerade einmal zwei Drittel der deutschen Lehrerinnen und Lehrer nutzen laut Statistischem Bundesamt digitale Medien aktiv im Unterricht oder für die Hausaufgaben. Lehrkräfte, die digitale Medien einsetzen wollen, seien natürlich aufgefordert, sich selbst mit deren Möglichkeiten und Herausforderungen auseinanderzusetzen, so Thomas Damberger. Das betreffe nicht allein die an[1]wendungsbezogene Ebene, sondern auch die größeren Kontexte, wie die zunehmende Sammlung und Speicherung von Daten (Datafizierung) oder Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten durch digitale Technik. „Kurzum: Es braucht das, was zuweilen unter Medienkompetenz beziehungsweise digitaler Kompetenz – leider nicht selten verkürzt – diskutiert wird“, so der Experte. Doch genau an diesem Punkt hapert es schon: Bei den Schulen in Deutschland gibt es eine digitale Kluft – rund ein Drittel gelten als digitale Nachzügler. Kinder und Jugendliche, die diese Schulen besuchen, haben weniger Chancen, zentrale digitale Kompetenzen zu erwerben. Zu diesen Kompetenzen gehört zum Bei[1]spiel die Fähigkeit, Fakten von Meinungen zu unter[1]scheiden. Das konstatiert das Statistische Bundesamt in seinem Trend-Report „Digitalisierung an Schulen“ aus dem Jahr 2022. Und auch beim Personal gibt es Defizite: Wie eine Umfrage der Universität Göttingen ergab, fühlen sich viele Lehrkräfte für die Nutzung digitaler Medien nicht ausreichend qualifiziert. Fort- und Weiterbildungen sind daher unabdingbar. Zudem müssen Schulen technisch entsprechend ausgestattet sein, was derzeit oft noch nicht der Fall ist. So verfügen nicht einmal 40 Prozent der Schulen über schnelles Internet und WLAN. Eine Studie des Branchenverbandes Bitkom hat den Investitionsbedarf bei digitaler Infrastruktur an Schulen auf rund 11 Milliarden Euro beziffert.

Kritisches Denken bewahren

Bei all ihren Vorteilen sind digitale Tools jedoch kein Allheilmittel. „Der Unterricht kann durch digitale Medien interessanter und abwechslungsreicher erscheinen“, so Thomas Damberger. „Unterrichtsgegenstände können in verschiedener Form medial präsentiert werden. Das allein macht den Unterricht jedoch nicht per se besser. Entscheidend ist, dass der Medieneinsatz geeignet ist, um den hervorzurufenden Potenzialen der Schülerinnen und Schüler zur Entfaltung zu verhelfen. Das allerdings setzt ein genuin pädagogisches Verhältnis voraus. Die Frage ist immer, welchen Effekt man erzielen will. Wenn es darum geht, die kritische Urteilsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern zu fördern und sie zu befähigen, gesellschaftliche Verhältnisse zu hinterfragen und an der Gestaltung einer gerechteren Welt mitzuwirken, spielen digitale Tools bestenfalls indirekt eine Rolle.“ Für die Schülerinnen und Schüler selbst bringt die Digitalisierung auch Risiken mit sich. Durch ständige Ablenkung und Reizüberflutung sinkt oft die Konzentrationsfähigkeit. Das bestätigen neurowissenschaftliche Studien. Zudem fördert der exzessive Medienkonsum eine oberflächliche Informationsaufnahme durch ständiges „Snacking“ von Kurzvideos und Textschnipseln. Wichtig ist daher die Einübung von Achtsamkeit und Fokussierung als Gegengewicht. Auch Cybermobbing und SocialMedia-Sucht sind Gefahren, auf die Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern im digitalen Zeitalter besonders achten sollten.

Wie sieht die Zukunft aus?

Natürlich entwickeln sich die digitalen Technologien weiter und somit auch die Möglichkeiten im Bildungsbereich. ChatGPT und ähnliche KI-Assistenten sind bereits (zum Leidwesen der Lehrerinnen und Lehrer) bei den Schülerinnen und Schülern angekommen und werden, laut Thomas Damberger, eine zunehmend große Rolle spielen, ebenso die adaptiven Lernsysteme. Mittelfristig sei auch mit einem größeren Einfluss von Augmented Reality und Metaverse zu rechnen, also von vollständig virtuellen Dimensionen, in die die Schülerinnen und Schüler beim Lernen eintauchen. Das alles mag zwar hilfreich sein und werden, befreit aber (glücklicherweise) nicht von dem, was den Menschen einzigartig macht: die Fähigkeit zu kritischem Denken. Eine Bildung, die die digitalen Chancen nutzt, aber auch Risiken mindert, erfordert Medienmündigkeit und kritisches Hinterfragen bei den Lehrenden wie bei den Lernenden. Nur so kann Digitalisierung eine Bereicherung sein, ohne zum Selbstzweck zu werden. Lehrerinnen und Lehrer sollten digitale Tools gezielt und reflektiert einsetzen und ihre Schülerinnen und Schüler gleichzeitig zu kritischer Mediennutzung befähigen. Dann kann Digitalisierung den Unterricht interessanter und abwechslungsreicher gestalten, ohne den Blick fürs Wesentliche zu verstellen


Mehr Informationen unter: www.freie-hochschule-stuttgart.de und www.damberger.org

PROJEKTDETAILS

Wissen kompakt: Wehrmacht und SS in Italien

Nach dem Sturz Mussolinis und der darauf folgenden  Kapitulation Italiens im September 1943 besetzten deutsche Truppen rasch große Teile des Landes. Italien, das zuvor ein Verbündeter Nazi-Deutschlands gewesen war, wurde zum Schauplatz eines brutalen Besatzungsregimes.

Die deutsche Wehrmacht und die Waffen-SS waren direkt an einer Reihe von Massakern beteiligt, die als Kriegsverbrechen gelten. Diese Gräueltaten richteten sich gegen italienische Partisanen, die gegen die Besatzung kämpften, sowie gegen die Zivilbevölkerung, die oft kollektiv für Widerstandsakte bestraft wurde. Ein bekanntes Beispiel ist das Massaker von Marzabotto zwischen September und Oktober 1944, bei dem die  SS und Wehrmachtseinheiten hunderte Zivilisten in 
 einem brutalen Vergeltungsschlag ermordeten. Ähnliche Massaker ereigneten sich in Sant‘Anna di Stazzema  und in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom, wo die Grausamkeit der Besatzer besonders deutlich wurde.

Diese Verbrechen waren Teil einer umfassenderen Strategie der „verbrannten Erde“, die darauf abzielte,  den  italienischen Widerstand durch Terror und Gewalt  zu brechen. Die Verantwortung für diese Taten liegt sowohl bei den ausführenden Soldaten als auch bei der militärischen und politischen Führung Nazi-Deutschlands, die solche Aktionen anordnete oder duldete.
 

Gedenkstein für die Opfer des Massakers von 1943 in Meina

Gedenkstein