60 Jahre MAHLE-STIFTUNG

MAHLE-STIFTUNG GmbH

Eine ungewöhnliche Vision zeigt Wirkung

Es war ein für die deutsche Wirtschaftsgeschichte unkonventioneller Schritt: Als die Brüder Hermann und Ernst Mahle 1964 ihr florierendes Unternehmen in eine Stiftung überführten, reagierte die Fachwelt mit Skepsis. 60 Jahre später zeigt sich: Die Idee trägt Früchte. Eine Geschichte über mutiges Unternehmertum und die Kraft sozialer Ideale.

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Der überraschende Entschluss

„Wir haben den festen Entschluss gefasst, völlig auf das Kolbengeschäft (gemeint war das ganze Unternehmen, nicht die Geschäftssparte, Anm. d. Red.) zu verzichten und die Firma umzuwandeln in eine Stiftung…“, erklärte Ernst Mahle 1951 in einer so genannten „Kolbenbesprechung“ vor der Belegschaft. „Vielleicht können wir durch diesen Beitrag wenigstens in einer kleinen Gruppe einen Weg zur Selbstverwaltung der Wirtschaft zeigen. Was wir brauchen, ist Weisheit und Liebe, um die sozialen Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklichen zu können.“

Die Ursprünge dieser ungewöhnlichen Entscheidung reichen zurück in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. „Nach der Rückkehr aus dem Weltkrieg suchte ich als junger Mann nach der Lösung vieler Fragen in Bezug auf den Sinn des Daseins, Religion, Ethik, Moral“, erinnerte sich Ernst Mahle später.

Fündig wurden er und sein Bruder in den Vorträgen Rudolf Steiners, der nach dem Krieg in Stuttgart seine Ideen zur „Dreigliederung des sozialen Organismus“ vorstellte. Steiners Vision: Freiheit im Geistesleben, etwa in Bildung und Kultur, Gleichheit im Rechtsleben und Brüderlichkeit in der Wirtschaft. Die von Steiner vorgeschlagene Soziale Dreigliederung beschreibt – in einfachen Worten – die Grundsätze einer möglichen Struktur einer Gesellschaft, in der die Koordination der gesamtgesellschaftlichen Lebensprozesse nicht zentral durch den Staat oder einer politischen Führungselite erfolgt, sondern in der sich die drei Bereiche des sozialen Lebens: Geistesleben (Kultur), Rechtsleben (Politik) und Wirtschaft selbst verwalten und relativ autonom den je eigenen Funktionsprinzipien folgen. Dieses Modell sollte geeignet sein, den zentral verwalteten Einheitsstaat abzulösen ohne den Staat als Gemeinschaft abzuschaffen.

Besonders sein Gedanke, Produktionsmittel zu „neutralisieren“ und sie denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sie aufgrund ihres Könnens am besten betreiben und weiterentwickeln würden, faszinierte die Brüder. Sie sahen darin einen „dritten Weg“ zwischen staatlichem Dirigismus und reinem Profitstreben. „Das erschien meinem um 2 Jahre älteren Bruder Hermann der richtige Weg und wir fanden so Antwort auf viele unserer Fragen“, so Ernst Mahle.

 

PROJEKTDETAILS

Ein Wagnis mit Vorbildcharakter

Die beiden Brüder waren dabei so unterschiedlich wie ihre sich ergänzenden Rollen im Unternehmen. Ernst Mahle beschrieb sich selbst als „etwas schnell, kompromissbereit, fantasievoll und viel auf Reisen“, während sein Bruder Hermann als nüchterne, zähe und willensorientierte Persönlichkeit galt. Beide verband jedoch die Überzeugung, dass sie sich „weniger als Eigentümer und Kapitalisten betrachten, sondern vielmehr als Treuhänder mit einer Verantwortung der Allgemeinheit gegenüber.“

Was die Mahle-Brüder am 18. Dezember 1964 in die Tat umsetzten, war revolutionär: Sie übertrugen 99,9 Prozent ihres Unternehmens auf eine gemeinnützige Stiftung. „Als schwäbische Tüftler und Brettlesbohrer wollten wir, wie z.B. Daimler und Bosch, zusammen mit unseren Mitarbeitern technisch eine Spitzenleistung erreichen im Sinne einer Dienstleistung für die Allgemeinheit“, erklärte Ernst Mahle später. Zugleich ging es ihnen darum, „die Lösung der sozialen Frage in Bezug auf das Eigentum an den Produktionsmitteln einen Schritt vorwärts zu bringen.“

Die Filderklinik: Ein Leuchtturmprojekt entsteht

Ein erstes Großprojekt der Stiftung war die 1975 eröffnete Filderklinik. „Eine glückliche Fügung führte uns in jener Zeit mit einem anthroposophischen Ärzteteam zusammen, das einen Krankenhausbau plante. So war es möglich, mit … Mitteln der MAHLE-Stiftung diesen Plan verwirklichen zu helfen“, so beschrieb Ernst Mahle den Gründungsimpuls. Nach der Idee einer integrativen Medizin verbindet das Krankenhaus bis heute moderne Schulmedizin mit anthroposophisch-medizinischen Therapieansätzen. Der Geschäftsführende Gesellschafter der MAHLE-STIFTUNG, Jürgen Schweiß-Ertl, erklärt das besondere Profil: „Die direkte menschliche Zuwendung an die Patientinnen und Patienten sowie die anthroposophischen Zusatztherapien haben ihren Preis, der durch das öffentliche Gesundheitswesen immer weniger berücksichtigt wird.“

Dennoch hat sich das Konzept bewährt: Die Filderklinik ist heute ein modernes Akutkrankenhaus mit überregionalem Renommee, besonders in der Geburtshilfe, Onkologie, Kinderheilkunde und Psychosomatik. 2003 erhielt sie als vierzehntes Krankenhaus der Bundesrepublik das Zertifikat „still- und babyfreundlich“ und ist zudem als Kompetenzzentrum für Adipositas- und metabolische Chirurgie sowie für Minimal Invasive Chirurgie und Hernienchirurgie zertifiziert.

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Von Stuttgart nach São Paulo

Mit der Gründung des INSTITUTO MAMHLE in São Paulo 2007 weitete die Stiftung ihr Engagement nach Brasilien aus. Die Verbindung zu dem südamerikanischen Land reicht dabei weit zurück: Bereits Ende der 1940er Jahre hatte Ernst Mahle dort die Metal Leve S.A. gegründet. Heute arbeiten etwa 15.000 Menschen in brasilianischen MAHLE-Werken.

Ein Leuchtturmprojekt in São Paulo ist die „Casa Angela“, das erste staatlich anerkannte Geburtshaus am Rande des Armenviertels Monte Azul. Hier können Frauen aus allen Bevölkerungsschichten sicher entbinden. Bemerkenswert ist auch die angegliederte Muttermilch-Sammelstelle, durch die die Sterblichkeit von Frühgeborenen um rund 50 Prozent gesenkt werden konnte. Was zunächst von der Fachwelt kritisch beäugt wurde, dient inzwischen sogar der staatlich anerkannten Ausbildung von Hebammen.

Mittlerweile gibt es in Brasilien zehn „Observatorien“– Ambulanzen mit wissenschaftlicher Begleitung, die anthroposophische Medizin anwenden. Eine dieser Einrichtungen befindet sich direkt auf dem Campus der renommierten Universität von São Paulo. Nach Deutschland gibt es nirgendwo auf der Welt so viele anthroposophische Ärzte wie in Brasilien – über 700 an der Zahl.

Vielfältige Förderung in vier Bereichen

Integrative Medizin und Forschung

Neben der Filderklinik unterstützt die Stiftung zahlreiche Forschungsprojekte im Gesundheitsbereich. Ein Beispiel ist das 2010 gegründete ARCIM Institute (Academic Research in Complementary and Integrative Medicine), das die Wirksamkeit komplementärmedizinischer Therapien wissenschaftlich untersucht. Bemerkenswerte Ergebnisse lieferte zum Beispiel eine prospektive Studie zur Behandlung von Jugendlichen mit Anorexia nervosa. Die Untersuchung konnte signifikante Verbesserungen durch ein integratives Therapieprogramm nachweisen. Besonders aufschlussreich ist auch eine aktuelle Studie zur Behandlung von Lungenentzündungen bei Kindern: Die Auswertung ergab, dass fast die Hälfte der kleinen Patienten dank integrativer Therapieansätze ohne Antibiotika erfolgreich behandelt werden konnte. Diese Ergebnisse unterstreichen das Potenzial komplementärmedizinischer Ansätze in der modernen Medizin.


Nachhaltige Landwirtschaft

Besondere Weitsicht bewies die Stiftung mit der frühen Förderung der nachhaltigen Landwirtschaft. Hier setzt sich die MAHLE-STIFTUNG besonders für den Erhalt natürlicher Ressourcen ein. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Schutz des Saatguts – der Grundlage unserer Ernährung. Die von der Stiftung geförderte Initiative „Save our Seeds“ (SOS) konnte einen wichtigen Erfolg verzeichnen: Als die EU-Kommission erwog, eine Verunreinigung von konventionellem und biologischem Saatgut mit gentechnisch veränderten Organismen von bis zu 0,5 Prozent zu erlauben, formierte sich breiter Widerstand. Die Initiative verhinderte durch Aufklärung und Bürgerproteste dieses Vorhaben, das faktisch das Ende der gentechnikfreien Landwirtschaft bedeutet hätte. Heute wird SOS von 300.000 Bürgerinnen und Bürgern sowie rund 300 Organisationen mit mehr als 25 Millionen Mitgliedern in ganz Europa unterstützt.

Die Stiftung fördert auch zukunftsweisende Bildungsprojekte in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft. Ein Beispiel ist die von Jiří Prachař gegründete „Farmářská Škola“ in Tschechien - die erste und bislang einzige Schule des Landes, die eine Berufsausbildung für ökologische und biologisch-dynamische Landwirtschaft anbietet. Auf dem dazugehörigen Lehrbauernhof, etwa 15 Kilometer von Prag entfernt, lernen die Studierenden die Praxis der nachhaltigen Landwirtschaft kennen. Das Interesse ist groß: Aktuell zählt die Schule rund 100 Studierende aus Tschechien und der Slowakei. Ein Zeichen dafür, dass das Bewusstsein für nachhaltige Landwirtschaft auch in Osteuropa wächst.


Bildung mit Zukunft

Im Bildungsbereich unterstützt die Stiftung innovative Konzepte wie die Freie Interkulturelle Waldorfschule Mannheim. Die 2003 gegründete Schule liegt in einem sozialen Brennpunkt mit rund 50 Prozent Ausländeranteil. Heute lernen dort 300 Kinder aus über 30 Nationen gemeinsam. Die Schule führte die „Begegnungssprache“ ein – neben Englisch werden ab der ersten Klasse Polnisch, Russisch, Türkisch, Kroatisch und Spanisch angeboten. „Schule ist bunt“, der Titel eines Buchs über das Projekt bringt das Konzept auf den Punkt.


Kunst und Kultur als Brückenbauer

Die kulturelle Förderung reicht von der Eurythmie bis zu internationalen Kunstprojekten. Unter der Leitung der legendären Else Klink, die 1986 das Bundesverdienstkreuz erhielt, füllte das Eurythmeum Stuttgart in den 1980er Jahren Opernhäuser und Theater. 2011 zeigte eine vielbeachtete Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg und im Vitra Design Museum erstmals außerhalb des anthroposophischen Kontexts Rudolf Steiners Einfluss auf die Kunst der Gegenwart.

Ein Modell für die Zukunft?

Nach 60 Jahren zeigt sich: Die Vision der Mahle-Brüder ist erfolgreich. Die MAHLE-STIFTUNG konnte bisher über 190 Millionen Euro in gemeinnützige Projekte investieren – Gelder, die, wie die Stiftung betont, zum größten Teil von den rund 70.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MAHLE-Konzerns an rund 150 Produktionsstandorten weltweit erwirtschaftet wurden. Die eigentliche Leistung liegt jedoch im Beweis, dass sich wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftliche Verantwortung nicht ausschließen müssen.